Die Welt verändert sich. Und das gibt uns die Möglichkeit, die Gesellschaft mitzugestalten und gemeinsam in Bewegung zu bringen. Als Regenbogen-Community können wir uns selbstbewusst in diesen politischen und sozialen Aufbruch einbringen sowie unseren Teil dazu beitragen, dass ein neues WIR entsteht – eine Gesellschaft, in der wir leben wollen.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten konnten Erfolge für ein gleichberechtigteres Zusammenleben errungen werden: die Öffnung der Ehe, die Rehabilitierung von Justizopfern, die Vielfalt im Bildungsplan und die Sichtbarkeit von LSBTTIQ in Medien und Führungspositionen, um nur einige zu nennen. Daraus erwächst für uns jedoch eine Verantwortung für die, die immer noch am Rande der Gesellschaft stehen: Ein Blick in Polizeiberichte genügt – regelmäßig Übergriffe auf LSBTTIQ in aller Öffentlichkeit, Mobbing auf dem Schulhof und eine immer noch überdurchschnittliche Selbstmordrate von queeren Jugendlichen zeigen Bruchlinien, mit existenziellen Folgen für den oder die Einzelne. Jenseits der Landesgrenzen und mit Blick auf die Welt beginnt oftmals die Finsternis: Lesbische, schwule und transsexuelle Menschen als bewusste Ablenkung und als Sündenböcke für verfehlte Politik, nicht selten gepaart mit staatlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung; Repression bis hin zu Folter und Tod.
Gleichzeitig keimt Hoffnung: Unsere Gesellschaft kommt weiter in Bewegung. Menschen spüren, dass sie sich engagieren müssen, um den Bruchlinien entgegen zu wirken. Dadurch entsteht eine neue Kraft. Diese Gegenbewegung zu Isolation, Ausgrenzung und Abschottung hat noch keinen Namen und kein Symbol. Doch die Menschen in dieser Bewegung setzen sich ein für einen Wandel von unten, an vielen Orten gleichzeitig. Diese Menschen kommen aus der gesamten Gesellschaft, aus ihrer Mitte ebenso wie von ihren Rändern. Gemein ist diesen Menschen in Bewegung ihre Sensibilität: Sie spüren, dass der Zusammenhalt zu erodieren droht, und wollen sich dem entgegenstellen. Da bricht sich ein Wille durch, der der Fragmentierung und dem Rückzug in Nischen sowie Komfortzonen entgegenzuwirken versucht.
„Für diese Gesellschaft in Bewegung haben wir nach einer gedanklichen Klammer gesucht“, beschreibt Christoph Michl, Geschäftsführer der IG CSD Stuttgart e.V., die Herangehensweise an das diesjährige Motto des politischen Kulturfestivals. „Expedition WIR ist zuallererst eine Einladung und zugleich ein Aufbruchssignal: Lasst uns gemeinsam eine Gesellschaft schaffen, in der wir alle leben wollen“, verdeutlicht der CSD-Chef und ergänzt. „Die Betonung liegt dabei auf ‚gemeinsam‘. WIR heißt WIR, nicht ‚die gegen uns‘ – da ist Lagerdenken hinderlich und Selbstisolation das Ende der Reise.“
Expedition WIR – das ist der Aufbruch in eine Gesellschaft, in die sich alle einbringen können. Niemand vermag dabei konkret zu wissen, wie genau diese Gesellschaft aussehen soll und wie sie aussehen wird. Keine Person, keine gesellschaftliche Gruppe und keine Weltanschauung – denn es gibt keine Blaupause für die Zukunft. Diese Gesellschaft entsteht im Dialog und im gegenseitigen Austausch, gewissermaßen auf Augenhöhe: Verständnis und Nähe bilden sich durch Empathie und die Bereitschaft zum Wechseln von Perspektiven.
EXPEDITION ALS ENTDECKUNGSREISE
Auf dem langen Weg zum Wir begegnen wir unseren Mitmenschen, innerhalb und außerhalb der eigenen Komfortzonen. Dabei lernen wir uns gegenseitig (besser) kennen und verstehen, was andere jeweils bewegt, was uns antreibt und was uns Kraft verleiht. Nicht alles, was uns begegnen wird, wird uns gefallen. Nicht zu allen werden wir eine Verbindung aufbauen können. Manches, was wir erfahren und erleben werden, wird uns überraschen. Vielleicht erkennen wir auch Dinge an uns selbst, die wir nicht wahrhaben woll(t)en. Wir lernen uns auf diese Weise aber auch selbst besser kennen. Darum ist diese Entdeckungsreise, die Expedition WIR, nicht zuletzt ein Wagnis.
Wenn unterschiedliche Menschen in eine noch unbekannte Welt aufbrechen, dann wird dies kein Spaziergang. Es wird Stockungen geben. Manches führt uns auf Irrwege. Treffen wir unerwartet auf eine Nebelwand, werden wir uns streiten, ob wir nun unmittelbar vor dem Ziel stehen oder doch vom Weg abgekommen sind. Unwägbarkeiten gilt es zu meistern, über Höhen zu klettern und durch Tiefen zu schreiten. Unser Tempo wird unterschiedlich sein, jede und jeder nach eigener Kraft. Wer Pausen braucht, nimmt sie sich. Und doch wollen wir gemeinsam Schritt halten (lernen). Wir werden unterschiedliche Wege ausprobieren, in der Hoffnung, dass alle letztendlich doch zum gemeinsamen Ziel führen. Die Reise wird aus Etappen bestehen, aus Abschnitten und Zwischenstopps. Mal werden wir verweilen, da wir eine Entdeckung gemacht haben oder weil wir die Zeit brauchen, die neuen Erkenntnisse zu verdauen. Mit gewachsener Reife brechen wir wieder auf, den nächsten Meilenstein im Blick und das große Ziel im Herzen.
SELBSTBEWUSSTER TEIL DER GESELLSCHAFT
Als Regenbogen-Community gehören wir ganz selbstverständlich – und damit auch selbstbewusst – zu dieser Gesellschaft in Bewegung. Wir bringen unsere Erfahrungen mit ein, vor allem das Wissen, wie Verschiedenheit und Buntheit das Leben bereichern kann. Wir spüren unsere Kraft und bauen auf die Ausdauer, die vorangegangene Generationen bei den Kämpfen um Gleichberechtigung, Sichtbarkeit und Akzeptanz an den Tag gelegt haben. Wir wissen um die Verantwortung jenen gegenüber, die noch nicht im gleichen Maße von Vielfalt und Respekt profitieren – im eigenen Land, aber auch über geografische Grenzen hinweg. Wir verfügen über das Selbstbewusstsein, für uns, unsere Identität, unsere Haltung und unsere Leidenschaft einzustehen.
Die Expedition WIR ist eine Einladung: Lasst uns gemeinsam die Gesellschaft gestalten, in der wir uns entfalten können – offen, bunt, vielfältig, vital, dynamisch, füreinander einstehend, wertschätzend und in einer freien Kultur lebend. Uns in der Regenbogen-Community betreffen die großen und kleinen Themen der Politik und der Gesellschaft ebenso, allerdings meist unter zusätzlichen Aspekten. Egal ob Familienplanung und Eheglück, Beruf und Alltag, Gewalt und Diskriminierung, Inklusion und Teilhabe, Alter und Pflege, Identität und Gemeinschaft, Fluchtursachen und Integrationsbemühungen, Erinnerungskultur und Zukunftsängste – immer sind wir gemeinsam gefordert, an das große Ganze zu denken – bis hinab zu vermeintlichen Untiefen oder bis hinaus an die Ränder. Nur dann finden wir nachhaltige Antworten für alle und letztlich für uns. Nur dann kann die Expedition WIR gelingen und zu einem gemeinsamen Ziel führen.
„Wir sehen diesen ersten CSD nach der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare als veritable Chance“, beschreibt CSD-Geschäftsführer Christoph Michl die Ausgangslage für die Expedition WIR. „Das Mehr an Gleichberechtigung, das mit den jüngst errungenen Erfolgen verbunden ist, gibt uns die Möglichkeit, unsere Energie nach vorne zu richten. Wir bringen uns aktiv in die Geellschaft in Bewegung ein. Zusammen mit allen engagierten Mitstreiterinnen und Mitstreitern gestalten wir die Welt mit. In gemeinsamer Vielfalt. In gegenseitigem Respekt.“
Der Einsatz für die Expedition WIR ist kein Selbstzweck – es geht um aktive Teilhabe an der Gesellschaft. Für die Regenbogen-Community und andere Minderheiten geht es zudem um handfeste Verbesserungen. Kurz: Es geht um den Zusammenhalt und das Wohl aller hier lebenden Menschen. Es geht um das Verstetigen des lange und hart Errungenen, das konsequente Weiterentwickeln von Bestehendem sowie den nachhaltigen Schutz – und teilweise auch die klare Verteidigung – des gesellschaftlichen Wandels hin zu Offenheit und Gleichberechtigung. Vollkommen ausbuchstabiert jedoch ist dieses Ziel der Gesellschaft in Bewegung noch lange nicht. Nun gilt es, die Route zu berechnen, das Bündel zu schnüren und sich auf den Weg zu machen.
Auf zur Expedition WIR. Auf zum CSD Stuttgart 2018.